2011-01-16

Der Zyniker und was er für mich tut.

In den letzten Tagen habe ich viel über den Zyniker nachgedacht, über den ich ja so geschimpft habe. Mein Zyniker, innendrin.
Neulich, da hab ich den Zyniker mal beiseite geschoben. Ich hab gefühlt und als der Zyniker schon hämisch anfing zu grinsen, die Arme verschränkte und Luft holte, um mir zu erklären, dass jeder leidet und ich selber schuld bin, wenn ich dran denke, hab ich ihn beiseite geschoben. Ich hab ihn nicht angebrüllt, ich war nicht wütend - ich war einfach besser. Überlegen. Und ich hab mir ins Gedächtnis gerufen, was ich erkenne und lerne: Mein Schmerz ist das, was zählt. Weil das das ist, was ich fühlen kann, nur ich, nur ich. Nicht relativieren, relativieren hilft nicht und ist unberechtigt. Ja, auch andere leiden und leben trotzdem. Und manche denken nichtmal drüber nach. Aber die können das, weil sie sind, wie sie sind und ich kann das nicht, weil ich bin, wie ich bin. Und wenn ich mir mal erlaube, die falsch anrührende Musik zu hören, dann ist das keine gezielte emotionale Manipulation, weil ich heulen will. Und wenn ich mir mal erlaube, an den Schmerz zu denken, dann ist das kein in Selbstmitleid baden. Man kann nicht die ganze Zeit verdrängen. Vor allem das alles nicht und vor allem ich nicht.

Und der Zyniker hat die Klappe gehalten. Irgendwann musste ich ihm nichts mehr sagen. Weil dann alles von alleine kam. Die Erkenntnisse über das sich geteilt fühlen. Andere würden sagen, ich habe meine Mitte verloren. Ja. Ich bin in mir geteilt und finde kein Maß mehr. Jeder soll sich hinterfragen - aber ich hinterfrage mich in ungesundem Maße.

Wie meine Nachforschungen in mir selbst, das Kramen in Erinnerungen und alten Gefühlsklamotten offenbarten, bin ich so geteilt, seit ich 11 oder 12 Jahre alt bin. Seitdem versuche ich mich vor etwas, das nur ein Teil von mir ist, zu rechtfertigen, und verliere. Das ist krank, das ist nervig. Und das ist seltsam.

Hallo, mein innerer Zyniker. So lange bist du also schon bei mir. Das hab ich gar nicht mitbekommen.
Du bist nämlich mitgewachsen, du hast dich angepasst, hast dir neue Aspekte dazugesucht, wie es gerade für mich passte. Ganz zu Anfang, als du erstmals da warst, warst du "der Pharisäer". So hab ich dich damals genannt, weil mir kein besserer Name einfiel zu dem Teil in meinem Kopf, der mir ständig Vorhaltungen machte. Wenn ich nachdachte, in meinem Kopf irgendeine Meinung zu etwas diskutierte, kamst du und nanntest mich "scheinheilig". Hast meine Gedanken angezweifelt und hinterfragt, wieder und wieder. Ich war verwirrt. Wenn ich über etwas traurig war, warfst du mir zuerst vor, dass ich ja nur dieses Gefühl genieße. Weils intensiv war, weils gefühlt war. Wenn ich dann einsah, dass das stimmen könnte, warfst du mir vor, ich wäre scheinheilig, weil ich um mein Genießen wüsste und trotzdem so fühlte. Und weil du ständig deine Positionen wechseltest, weil ich es dir nicht recht machen konnte, nannte ich dich "Pharisäer" - warum hast du mein Verhalten so sehr beurteilt, statt dir dein eigenes anzugucken? Meiner Meinung nach war das Pharisäer-Verhalten. Den Splitter im Auge des anderen sehen, aber den Mammutbaum im eigenen Auge unberührt lassen.

Später wurdest du anders. Ich hab dich nicht mehr "Pharisäer" genannt, ich habe sogar fast vergessen, dass es da mal einen Pharisäer in meinem Kopf gab. Du warst der kleine Teil in meinem Kopf. Es gab Momente, da konnte ich dich fast lokalisieren, wie Kopfschmerzen; hätte ich keine Haare und einen Edding gehabt, hätte ich dich manchmal auf meinem Schädel einzeichnen können. Du hast aus allem eine Geschichte gemacht.
Das war die Zeit, in der ich das erste Mal bewusst entdeckte, dass ich auch was kann, abgesehen von mir Witze merken. Ich konnte vielleicht nicht so toll singen wie meine Schwester - aber ich mochte Worte und konnte gut mit ihnen. Wenn ich Geschichten schrieb, hab ich Lob bekommen - so wie sie, wenn sie sang.
Und du warst wie ein Autor in meinem Kopf. Aber du hast keine eigenen Geschichten geschrieben. Ich glaube, du hast mir nicht mal sonderlich geholfen, wenn ich welche schrieb. Was du gemacht hast, war kommentieren. Und zwar mein Leben. Du hast alles so formuliert, dass ich das Gefühl hatte, ein Manuskript oder Notizen zu lesen. Du warst manchmal fast die Stimme aus dem Off. Ich kam mir so blöd vor, wenn ich normal vor mich hindachte oder fühlte, wie mensch das so tut und auf einmal die Stimme aus dem Off meine Gedanken druckfertig formulierte und ich mir dadurch pathetisch fühlte, weil ich doch etwas fühlte, aber nebenbei noch in der Lage war, es so zu formulieren, dass es möglichst beeindruckt. Das war geteilt, das war doch nicht ganz. Dabei soll man bei manchem konzentriert, dabei sein, ganz sein. Bei (manchen) Gefühlen, zum Beispiel. Aber ich konzentrierte mich nicht, ich war nicht ganz, weil du ja auch noch redetest und ich dir zuhörte.
Wenn ich weinte, hast du das so ausgedrückt, wie es in einem Buch stehen würde. Ich kann nicht mal Beispiele formulieren, weil mich das heute noch beschämt und verwirrt, wie es mich damals schon verwirrt und beschämt hat. Aber du hast nicht aufgehört.
Wenn ich Leuten erzählt habe oder heute noch erzähle, dass da in meinem Kopf ein Kommentator sitzt, ein Teil meines Kopfes, der immer anders denkt als ich, dann haben mich manche angeguckt wie... nun ja, ich wusste, dass das verrückt klang.
Du warst sogar noch da, als irgendwann in den letzten Jahren die Überlegung da war, ob ich vielleicht den familiären Hang zu Depressionen hatte? Du hast da gesessen und mir vor Augen gehalten, dass mich das doch freuen müsste, schließlich steigert Leiden die Kreativität und das ist doch wunderbar. (Und hätte ich dir auch noch zugestimmt, hättest du mich fertig gemacht. Für meinen Pathos und meine Dummheit.)

Und jetzt? Jetzt bist du der Zyniker. Du formulierst mein Leben nicht mehr zu einem Buch, sondern wir führen Gespräche. Beziehungsweise setzt du mir deine Standpunkte vor. Lässt mich nicht aus den Augen, "Maria, benimm dich gefälligst! Reiß dich zusammen und sei nicht so wehleidig, das ist ja zum Kotzen!"
Ja, genau, Maria. Hör damit auf. Meinst du wirklich, die anderen wollen wissen, wenn und warum es dir schlecht geht? Glaubst du nicht, dass die genug mit sich selbst haben? Und du weißt doch, dass das auch wieder vorbei geht und man sich wieder besser fühlt. Morgen ist schon wieder ein besserer Tag und dann ist das hier schon wieder weit weg. Warum also jetzt so ein Drama machen und andere darin einbeziehen? Warum also jemanden behelligen, noch dazu, wenn dieser Jemand nichts daran ändern kann. Es ist deins, krieg du das klar. Sei doch mal selbstständig, krieg doch mal was hin. Winsel nicht rum. Heul nicht rum, das hilft keinem, dir am allerwenigsten, und die anderen stört es. Nimm doch bitte mal Rücksicht und sei nicht so elendig.

Aha. Und wer sagt das? Du. In mir drinnen. Eigentlich solltest du ganz leise sein. Du bist nicht mal jemand. Du bist nur ich. 
Wäre es nach dir gegangen, ginge es jemals ganz nach dir, würde ich nicht fühlen. Hätte den Gefühlen schon vor Jahren abgeschworen und würde die meiste Zeit verächtlich auf alle anderen herabsehen, nicht, weil ich besser sei, sondern weil ich meine Armseligkeit als Mensch besser durchschaut hätte als sie die ihre.

Und ich predige Authentizität und all diesen Kram, der damit zu tun hat, so natürlich und selbst zu sein wie's geht - und bin es selbst nicht. Weil ich so geteilt bin.
Weil du da bist, du, und mich so uneins mit mir selbst machst.
Wegen dir klappt das nicht. Ich stehe nicht zu meinen Gefühlen, nicht mal vor mir selbst. Ahahaha, sehr bitter.
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Und jetzt mal wieder weg vom persönlichen Gespräch mit dem Zyniker und zurück zum eigentlichen Thema: Was tut der Zyniker für mich?


Er schützt mich. Vor allem, was weh tut. Er hält es von mir weg, lenkt mich davon ab, lässt mich nicht dran denken. Indem er es lächerlich macht und mich so darin verunsichert. Ich stelle erst jetzt, wo ich mir den Zyniker so gut angucke, fest, wie oft ich einfach in einem Gedanken gestoppt habe, etwas nicht weiter gedacht habe, weil es zu sehr weh getan hätte.

Das hat es dann stattdessen am Donnerstag. Als ich den Zyniker in die Ferien schickte. Ihm sagte, dass er die Klappe halten solle. Was er dann ja auch tat. Und dann war er erstmal nicht mehr da, sondern in den Ferien. (Forrest Gumps Mutter sagt immer, Forrests Vater sei in den Ferien.) Ich saß also im Bus und dachte nach, weil ich ja sonst nichts kann, stimmte dem Zyniker nicht zu, verbot ihm den Mund. Ließ nicht zu, dass er meinen Schmerz und meine Beschädigung relativiert.
Und dann sitzt du plötzlich im Bus und weinst, ganz leise, um die anderen nicht zu stören, weil plötzlich alles weh tut und es ist egal, wo du hinschaust in deiner Seelenlandschaft ist überall immer irgendwas kaputt, irgendwas nicht in Ordnung und alles Wüste. Und dann überlegst du, aus dem Bus auszusteigen, um die anderen nicht zu belästigen, aber nein, das geht noch, nachhause gehts noch und da ist dann mein Zimmer, da bin ich sicher, da ist niemand, da kanns raus ohne dass irgendwer es bescheuert lächerlich pathetisch findet. Aber dann, zuhause, gehts gar nicht mehr bis nach zuhause. Denn sobald du in den kleinen Weg eingebogen bist, keine Menschen mehr da sind, die dich sehen und ÜBER DICH URTEILEN können, geht nichts mehr, halten die Dämme nicht mehr und überhaupt nichts hält mehr. Ab an die Weser, an den Menschen mit ihren Hunden vorbei, gucken dass keiner mehr da ist und dann alles in den Fluss schreien und heulen und wüten. Eine Viertelstunde lang. Bis schließlich der Schäferhund nach mir gucken kommt, meine Hand anstupst und dann erstmal ungestört aus dem Fluss trinkt, bei mir nochmal nach dem Rechten schaut und schließlich mit seinem Menschen weitergeht. Und dann ist das nur noch die posthysterische Leere. Nachhause gehen. Den Kopf beschämt (obwohl ich doch nicht mehr beschämt sein will) nach unten senken, wenn man an Menschen vorbei geht. Hoffen, dass man zuhause keinem über den Weg läuft. Zuhause keinem über den Weg laufen. In den Badezimmerspiegel gucken und angesichts des verheulten Etwas dort erschrecken. Schnell hoch ins Zimmer, ab aufs Bett, durchatmen, ungeplant zwei Stunden schlafen. Rest des Abends überleben in der geschafften Stimmung, die auf neue Erkenntnisse folgt.

Und das Krasse ist diese Erkenntnis: Ach so. Der innere Zyniker ist ein Selbstschutz. (Ja, da hätte der erfahrene Küchenpsychologe drauf kommen können, aber bei sich selbst funktioniert das ja eher nicht so.) Der innere Zyniker ist also ein Selbstschutz. Und wenn ich ihn weglasse, bin ich am Arsch, wenn ich ihn zum Schweigen bringe, bin ich am Arsch, sollte er irgendwann nicht mehr funktionieren, werde ich am Arsch sein.
Aber so soll das doch nicht sein.

Ich freue mich auf das Gleichgewicht, das eine Therapie hoffentlich mitherbeiführen kann. Den Zyniker jetzt in seiner guten, für mich helfenden Position zu sehen, ist ein Anfang. Ist ein erster Schritt zum Gleichgewicht, das merke ich.
Er ist nicht mehr nur ein feindlicher Teil von mir, etwas in mir, dass mich nicht versteht und dass ich immer aus mir raus haben wollte. Er will mich schützen. Er will mir helfen. Er will mir Gutes, er geht es nur leider falsch an.

Aber er ist etwas von mir. Und nicht mehr so schrecklich fremd.

1 Kommentar:

  1. boah; puuuh; überwältigt von eindrücken und empfindungen; stolz über bewegung; stolz auf dich, auf deine tapferkeit; froh über "fort-kommen"; zuversichtlich, dass alles gut (NICHT wieder!) wird; dankbar für schnelle hilfe! LIEBE

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